Freie Welt: Sehr geehrter Herr Prof. Engels: Befindet sich die EU in einer Krise?
Prof. Engels: Leider ja, sogar mehr denn je. Selbst die politischen Eliten, welche lange ausschließlich von einer „institutionellen“ Krise der EU gesprochen haben, sind zunehmend gezwungen anzuerkennen, daß es sich um nichts weniger als um eine echte Zivilisationskrise handelt, wie kürzlich noch Emmanuel Macron in seinem feierlichen Aufruf schrieb. Diese Krise ist freilich nicht durch die EU hervorgerufen worden (wenn diese auch das ihre dazu getan hat, sie zu verstärken); vielmehr könnte man sagen, daß die EU selber mitsamt ihren zahlreichen inneren Problemen nur ein Symptom der sich immer stärker verschärfenden Krise der westlichen Welt ist.
Freie Welt: Was sind für Sie die Hauptprobleme des heutigen Europa?
Prof. Engels: Die Liste ist lang: Gesellschaftliche Polarisierung, Masseneinwanderung, Bildungsnotstand, Fundamentalismus, verfallende Infrastrukturen, Terrorismus, demographischer Niedergang, Desindustrialisierung, Zerfall der klassischen Familie, Hedonismus, Überalterung, Rechtsrelativismus, explodierende Staatsschulden, Islamisierung, Elitendemokratie, Kasinokapitalismus, asymmetrische Kriege, absehbarer Bankrott der Rentenkassen, Zunahme krimineller Gewalt, bürokratische Überregulierung, Bedrohung der Sicherheit der Frau, ausufernde Sozialbudgets, Parallelgesellschaften, Instrumentalisierung der historischen Schuld der abendländischen Völker, Bargeldabschaffung mitsamt den sich potentiell daraus ergebenden Negativzinsen, immer größerer wissenschaftlich-technologischer Rückstand, zunehmender Aufbau eines flächendeckenden digitalen Überwachungssystems – und die Liste ließe sich noch lange fortsetzen und natürlich um die zahlreichen inneren Probleme des EU-Apparats wie auch die äußeren Bedrohungen des Kontinents durch ein expandierendes China, eine instabile USA, einen immer fundamentalistischeren Nahen Osten und ein demographisch gärendes Afrika ergänzen.
Freie Welt: Was macht für Sie die Eckpfeiler der europäischen Identität aus?
Prof. Engels: Die europäische – ich bevorzuge eigentlich das schöne Wort „abendländische“ – Identität besteht in der seit Jahrhunderten geteilten gemeinsamen Geschichte mit ihrer inneren Dynamik und Zusammengehörigkeit. Ein noch so oberflächlicher Blick in ein beliebiges Museum europäischer Kunst oder Geschichte, sei es nun in Portugal, Deutschland oder Polen, sollte eigentlich genügen, selbst dem historisch Unbedarftesten zu zeigen, daß das Abendland eine kulturelle Schicksalsgemeinschaft sondergleichen ist: Von der Romanik über Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko, Klassizismus, Romantik und Historismus bis zum Modernismus; vom mittelalterlichen Katholizismus über die Reformation, die Wiederentdeckung der Antike, die Aufklärung und den Liberalismus bis zur gegenwärtigen „politischen Korrektheit“; von der Monarchie über den Feudalismus, die frühneuzeitlichen Territorialstaaten, den Absolutismus, die bürgerliche Demokratie und den Totalitarismus bis hin zur gegenwärtigen internationalen und globalistischen Ordnung – all dies betrifft nicht nur einen einzigen europäischen Nationalstaat, sondern verbindet uns alle von Lissabon bis Vladivostok und von Palermo bis nach Tromsø, und trennt uns gleichzeitig auch in schärfster Weise von den anderen großen Kulturräumen der Weltgeschichte. Die Wurzel jener geteilten Identität aber liegt in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem Christentum, wobei zu betonen ist, daß in Europa selbst noch die Ablehnung des Christentums sich in geistig typisch christlich geprägter Weise vollzieht. Wir können unserem christlichen Erbe nicht entkommen, denn wir tragen es in uns.
Freie Welt: Warum verkörpert die heutige EU diese nicht? Warum fällt es vielen Bürgern heutzutage schwer, sich mit der EU zu identifizieren?
Prof. Engels: Sehr einfach: Die EU glaubt, sich von der historischen Identität des Abendlands abwenden zu können und den (wiederum letztlich typisch christlich verankerten) Wunsch nach Selbstüberwindung und Selbstkritik so pervertiert überziehen zu können, daß sie ganz auf eine historische Fundamentierung ihrer Identität verzichtet und gewissermaßen in Erwartung künftiger Weltverbrüderung schon jetzt auf dem europäischen Kontinent einen universalistischen, multikulturellen, rein humanistisch und somit relativistisch fundierten Weltstaat aufbaut. Das ist in etwa so klug, als schneide man einer Pflanze die Wurzeln ab, damit ihre Bodenhaftung sie nicht am Wachstum hindere – und ebenso selbstzerstörerisch, denn das europäische Projekt kann sich über kurz oder lang nur in einen materialistischen, zynischen und hedonistischen Alptraum wandeln, wenn die „Werte“, auf denen es basiert, rein positivistisch gesetzt und somit beliebig interpretier- und manipulierbar sind, da ihnen jeglicher absoluter, sei es transzendentaler, sei es traditionaler Bezugspunkt fehlt.
Freie Welt: Ist es überhaupt möglich, alle Vorgänge und Lebensbereiche der europäischen Länder in Brüssel zu zentralisieren?
Prof. Engels: Möglich ist dies sicher – Stichwort Sowjetunion –; die Frage ist natürlich nur, wie lange, und um welchen Preis.
Freie Welt: Droht ein Verlust unserer europäischen Identität?
Prof. Engels: Dieser Verlust „droht“ ja leider nicht nur, er ist bereits zu einem großen Teil eingetreten. Freilich ist dies nicht unmittelbar die alleinige Schuld der europäischen Institutionen; vielmehr handelt es sich nur um die letzte Konsequenz eines typisch spätzeitlichen Selbsthasses, der sich schon in der Fin-de-siècle-Stimmung ankündigte und sich in den 1968ern erstmals voll entlud. Die Entwicklung ist heute schon so weit geraten, daß seit wenigstens einer, wenn nicht zwei Generationen eine weitgehende Loslösung von der eigenen Geschichte und somit den eigenen Werten stattgefunden hat: Die heutigen Europäer wandeln durch ihre Lebenswelt wie Fremde durch das Museum einer lange untergegangenen Kultur, und es steht zu fürchten, daß zusammen mit der geteilten Vergangenheit nicht nur die innere Verpflichtung zum Schutz dieses Erbes verlorengeht, sondern auch jegliche Solidarität zwischen den Menschen abendländischer Kultur.
Freie Welt: Was ist für Sie die Aufgabe einer Europäischen Union? Brauchen wir überhaupt eine europäische Gemeinschaft?
Prof. Engels: Ja, wir brauchen sie sogar unbedingt. Aber freilich nicht in der gegenwärtigen Form, welche den eigentlichen Interessen des Abendlands geradezu entgegengesetzt ist: Wir brauchen eine institutionalisierte Zusammenarbeit der abendländischen Staaten, welche deren Lebensart bewahrt und sie nach außen hin schützt. Heute haben wir das Gegenteil: Eine EU, welche wesentlich daran beteiligt ist, Welt- und Menschenbild der europäischen Völker durch Universalismus, Multikulturalismus und politische Korrektheit aufzulösen und den Kontinent gleichzeitig den Interessen einer kleinen globalistischen Wirtschafts- und Politikelite auszuliefern.
Freie Welt: Welche Rolle kommt in einer Europäischen Gemeinschaft in Ihren Augen den einzelnen Nationen zu?
Prof. Engels: Als Kulturmorphologe erwarte ich, auch auf Basis des Vergleichs mit der Entwicklung anderer Zivilisationen, daß der „Nationalstaat“ im Sinne des 19. Jhs. nur noch eine sehr begrenzte Zukunft hat: Die äußere wie innere Bedrohung Europas ist solchermaßen geartet, daß das Abendland gegen die Gefahr der demographischen Überflutung, der Islamisierung und der Unterwerfung unter die chinesische Hegemonie nur dann noch eine Zukunft hat, wenn die Nationalstaaten zumindest Teile ihrer Hoheitsrechte an eine höhere Instanz delegieren: Auf sich alleine gestellt, dürften die meisten europäischen Nationalstaaten, Deutschland inklusive, rasch in der einen oder anderen Weise als politische und kulturelle Akteure der Weltgeschichte ausscheiden. Freilich muß es im Gegenzug gesichert werden, daß jene gemeinsamen Institutionen nicht nur einer echten demokratischen Kontrolle unterliegen, sondern auch im Geiste der positiven inneren Verbundenheit mit der abendländischen Geschichte und den europäischen Interessen agieren – was zur Zeit ja leider reine Zukunftsmusik und letztlich der Grund für die Krise der EU ist. Mit den „Nationen“ steht es freilich anders: Sie gab es bereits vor dem Nationalstaat, und sie werden diesen wohl auch überleben, wenn auch zum einen die Grenzen zwischen den einzelnen Völkern aufgrund der hohen Binnenmobilität zunehmend (wieder) verschwimmen werden, und zum anderen aufgrund der allgegenwärtigen Amerikanisierung eine gewisse Verflachung stattfindet, die ihrerseits natürlich auch den Weg zu einer zunehmenden, auch politischen Vereinheitlichung des Kontinents ebnet. Das darf und soll man bedauern – aber man kann es nicht rückgängig machen. Wem tatsächlich am Alten gelegen ist, der darf nicht versuchen, den status quo ante zu restituieren (etwa die angeblich „gute alte Bundesrepublik“), sondern der muß revolutionär in die Zukunft hinein wirken. Di Lampedusa schrieb einmal: „Damit alles gleichbleibt, muß sich alles verändern“ – diesen Satz sollte man sich gerade auf Seiten der Konservativen zu Herzen nehmen.
Freie Welt: Ihr nun herausgegebenes Buch Renovatio Europae trägt den Untertitel Plädoyer für einen hesperialistischen Neubau Europas. Halten Sie die EU nicht für reformierbar? Warum braucht es einen Neubau?
Prof. Engels: In der Tat: Die EU ist aus eigenen Kräften gegenwärtig nicht reformierbar – und dieser Zustand wird sicherlich auch einige Jahre, wenn nicht Jahrzehnte andauern, bis die EU, zusammen mit unserer gegenwärtigen Gesellschaft, an ihren inneren Widersprüchen zerbricht und den Weg freimacht für eine Neuordnung. Das wird ein sehr schmerzhafter und gewaltsamer Prozeß werden, und auch der daraus hervorgehende Zustand wird wohl in Anbetracht der Sachlage kaum ein Idealstaat werden. Immerhin aber soll unser Buch helfen, schon jetzt, wo es gewissermaßen zunehmend im Gebälk kracht, einige Wege aufzuzeigen, wie man aus den kommenden Zeiten das Beste machen könnte, und wie wir zumindest das Wichtigste, nämlich unser abendländisches Welt- und Menschenbild, in die Zukunft hinüberretten können. Es geht also weniger um ein unmittelbar zu realisierendes Idealbild – dafür ist es ohnehin schon viel zu spät – als vielmehr um eine Art regulative Idee, die aber heute schon ihre Wirkmächtigkeit entfalten kann – vielleicht gerade weil sie den gegenwärtigen Zuständen so radikal entgegengesetzt ist.
Freie Welt: Der Titel ist, schreiben Sie, auch eine Provokation. Warum wollen Sie provozieren?
Prof. Engels: Eine der größten Probleme der Gegenwart ist die feige und opportunistische Suche nach Kompromiß, Konsens und kleinsten gemeinsamen Nennern. Dies hat nicht nur zur gegenwärtigen Dominanz der „politischen Korrektheit“ geführt, die ja paradoxerweise eben jenen Anti-Elitismus zum Motor einer einzigartigen politischen und gesellschaftlichen Polarisierung des Westens in „Völker“ und „Eliten“, in „reich“ und „arm“ umgestaltet hat; es hat auch zu einer fast völligen Gleichschaltung „konservativer“ Denker und Meinungen mit dem gegenwärtigen Zeitgeist geführt. Anstatt sich mutig zu Tradition und Geschichte zu bekennen, bemühen sich die meisten Konservativen, ihre Positionen durch das allgegenwärtige Vokabular des Linksliberalismus zu begründen: Dies bringt sie aber nicht nur in eine unüberwindliche Schieflage, sondern gestaltet ihren Kampf um die Gestaltung unserer Lebensumstände in ein bloßes Betteln um ihre Anerkennung als „eine Meinung unter mehreren“. In dieser Situation einmal den Spieß herumzudrehen und sich nicht anzubiedern, sondern im Gegenteil die in sich selbst ruhende Begründung der eigenen Überzeugung zu unterstreichen, schien mir ein dringend notwendiger Schritt, gerade in einer Zeit der zunehmenden Verengung und Verschiebung des Meinungskorridors.
Freie Welt: Wer sollte das Buch lesen?
Prof. Engels: Jeder!
Freie Welt: Der Begriff Hesperialismus ist uns noch nie begegnet: Was ist der Hesperialismus?
Prof. Engels: Mit „Hesperialismus“ ist die Überzeugung gemeint, daß das Abendland nur dann eine Zukunft hat, wenn es zum einen treu zu seinem historischen Erbe steht und seine Wurzeln pflegt, anstatt sie abzuschneiden, zum anderen aber politisch eng zusammenarbeitet, um sich gegen die zahlreichen Gefahren von innen wie von außen zu wehren. Diese Überzeugung ist insoweit „neu“ bzw. unüblich, als lange Jahre hinweg der kulturkonservative Standpunkt meist mit den sogenannten Nationalisten oder Euroskeptikern assoziiert wurde, während das Bekenntnis zu einem vereinigten Europa meist eher auf Seiten der Linken gepflegt wurde.
Freie Welt: Warum haben Sie ein neues Wort geschaffen? Hätte man nicht ein gängiges Wort neu definieren können?
Prof. Engels: Als Historiker bin ich natürlich sehr sensibel, wenn es um Begrifflichkeiten geht, und habe lange über die Frage nachgedacht. Leider ist es so, daß alle anderen Termini, welche ein ähnliches, patriotisches und gleichzeitig konservatives Bekenntnis zum Abendland hätten ausdrücken können, bereits ganz anders konnotiert waren. „Europäismus“ zum Beispiel ist heute ein Standardbegriff, um nicht etwa die eigentlichen „pro-Europäer“ zu bezeichnen, sondern vielmehr die Anhänger der EU mitsamt ihrer gegenwärtigen politisch korrekten Ideologie. Oder nehmen Sie „Okzidentalismus“ – hier denkt natürlich jeder an den Gegenbegriff „Orientalismus“ und die Debatte um Edward Said. Und ich will erst recht schweigen vom „Westlertum“, was ja auch nur als Antonym zu den „Slawophilen“ verständlich ist. Da war es angebracht, einen neuen Begriff zu prägen, und was lag näher, als die griechische Bezeichnung für den äußersten Westen der damals bekannten Welt, die Inseln der Hesperiden, zum Ausgangspunkt zu nehmen; umso mehr, als sie ja auch auf jene typisch abendländische, „faustische“ Sehnsucht nach dem verweisen, was immer „hinter dem Horizont“ ist, dem klassischen „plus ultra“…
Freie Welt: Wer sind für Sie die Feinde eines >>hesperialistischen Europas<<? Wo sehen Sie die größten Gefahren für Europa?
Prof. Engels: Das „hesperialistische“ Abendland ist von zahlreichen Seiten bedroht. Einige dieser Konflikte sind konkreter Art: In der multipolaren Welt des 21. Jh.s kann nur harter realpolitischer Pragmatismus, verbunden mit der Bereitschaft, schmerzliche Entscheidungen zu treffen, um noch Schlimmerem vorzubeugen, es verhindern, daß wir den Gefahren von Osten, Westen oder Süden erliegen oder an der inneren Spaltung in Klassen und Parallelgesellschaften zugrundegehen. Ein anderes Schlachtfeld – m.E. das eigentlich entscheidende – ist der Kampf um die innere, seelische Ausrichtung der letzten Abendländer: Denn der eigentliche „Feind“ Europas sitzt nicht, wie von vielen „Populisten“ behauptet, in den islamischen Vororten von Paris, London, Brüssel, Berlin oder Stockholm, auch wenn die Aufgabe, jene Bürger in das zu integrieren, was von der „Mehrheitsgesellschaft“ übrigbleibt, eine enorme Herausforderung ist. Der eigentliche Feind sitzt in uns selbst: Die Tendenz, uns von der Verpflichtung unserer Vergangenheit abzukoppeln und nur an uns und nicht unsere Vorfahren oder Nachkommen zu denken; die Versuchung, den letzten Fragen auszuweichen und ein tierhaftes, nur auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichtetes Leben zu verbringen; die Feigheit, lieber mit der Masse zu gehen, um ungestört zu bleiben, als anzuecken; der Wunsch, keine Unterscheidungen mehr treffen zu müssen, aus jeder Ausnahme gleich eine Regel zu machen und Fragen von Gut und Böse elegant positivistisch zu relativieren; der einfache Opportunismus, in jedem Augenblick moralische Maximalpositionen zu vertreten, aus deren Unmöglichkeit sowohl ein gutes Gewissen als auch die praktische Unmöglichkeit ihrer Verwirklichung folgen, etc. Das ist der eigentliche Feind, den es zu bekämpfen gilt – und er ist heute mächtiger denn je.
Freie Welt: Glauben Sie, dass derzeit eine Bewegung entsteht, welche die linke Meinungsdominanz durchbricht? Welche Rolle sehen Sie darin für Ihr Buch?
Prof. Engels: Ich denke in der Tat, daß die Gegenbewegung zum politisch korrekten Linksliberalismus immer stärker wird, auch wenn es wohl viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern wird, bis auf einen (ebenfalls noch in einiger Zukunft stehenden) politischen Wandel auch ein wirklich kultureller und gesellschaftlicher folgen wird – Stichwort „Marsch durch die Institutionen“. Doch reicht es nicht, jene Dominanz nur zu brechen – was soll an ihre Stelle treten? Die sogenannten „konservativen“ oder „populistischen“ Bewegungen sind tief gespalten, nicht nur, was etwa die Ausrichtung gegenüber Rußland betrifft, sondern auch und gerade die Werte: Laizismus oder Christentum; liberale oder soziale Marktwirtschaft; nationalistischer oder abendländischer Patriotismus; Positivismus oder Naturrecht; Modernismus oder Klassizismus; Individualismus oder Traditionalismus; Hedonismus oder Transzendenz… Sollte mein Buch mithelfen, die Waage zugunsten der jeweils zweiten Richtung ausschlagen zu lassen, wäre ich bereits überglücklich.
Freie Welt: Warum wir ein konservatives Weltbild heutzutage oft als rechtspopulistisch gebrandmarkt? Woher kommt all der Haß auf die konservativen Kräfte?
Prof. Engels: Vordergründig ließe sich natürlich einmal mehr das Trauma des Zweiten Weltkriegs und des Totalitarismus bemühen, aber das greift natürlich viel zu kurz, denn dann müßte eine ähnliche Abneigung auch gegen linke Kräfte bestehen, was generell nicht oder doch nicht im selben Maße der Fall ist. Auch kennen wir eine analoge Entwicklung ja gerade in jenen Staaten wie dem Vereinigten Königreich oder den USA, welche selber nie durch totalitäre Regime geprägt waren. Nein, die zunehmende Polarisierung in ein „universalistisches“ und ein „traditionalistisches“ Lager – denn das sind die einzigen Bezeichnungen, die gegenwärtig politisch überhaupt noch Sinn machen – geht mindestens bis auf den Ersten Weltkrieg zurück, wo wir sie im Kampf der „Zivilisation“ gegen die „Kultur“ finden, wie Thomas Mann sie in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ wortreich beschwor, und hatte bereits da eine Dimension erreicht, welche es eigentlich nötig machen würde, die Ursachen jener Spaltungen bis hin zur Französischen Revolution, ja vielleicht sogar bis zur Reformation zurückzuverfolgen (aber ich schweife ab) und gewissermaßen als allgegenwärtige anthropologische Konstante anzunehmen, die sich im Laufe der Kulturgeschichte mal zugunsten der einen, mal der anderen Richtung mit einer gewissen Regelhaftigkeit entwickelt. In dieser Hinsicht bin ich sehr von Oswald Spengler geprägt…
Freie Welt: Wird sich die Spaltung der Gesellschaft noch vertiefen?
Prof. Engels: Ganz sicherlich. In einigen Monaten oder Jahren werden massive Verteilungskämpfe einsetzen, wenn die Sozial- und Rentenfürsorge zerbricht, die Enteignung des Bürgers durch die Eurorettung (in Deutschland) bzw. die aufoktroyierte Austeritätskur (in Südeuropa) manifest wird und die Alimentierung immer größerer Migrantenmengen ins Visier der ausgebeuteten Bürger tritt. Kleinste Auslöser können hier rasch einen Flächenbrand entzünden, den zu löschen wohl viele Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird.
Freie Welt: Glauben Sie, dass die Kräfte des Establishments Ihre Anstrengungen noch intensivieren werden, um Ihre Macht zu erhalten? Was bedeutet dies für die freie Meinungsäußerung?
Prof. Engels: Es wird ihnen keine andere Möglichkeit bleiben: Zum einen macht die Stärke der „Populisten“ überall in Westeuropa „große Koalitionen“ zu einer institutionellen Notwendigkeit, so daß bis auf ein störrisches „Weiter so“ bzw. „Wir schaffen das“ machttechnisch nur noch eine punktuelle Alimentierung einzelner Wählerkreise möglich sein wird, nicht aber eine grundlegende Reform des gesamten Systems – ganz zu schweigen davon, daß letzteres ja auch ein Eingeständnis der eigenen Fehler wäre. Selbst einzelne Wahlsiege der „Populisten“ egal welcher Obedienz werden in Anbetracht der Interdependenz der europäischen Staaten untereinander nur wenig Einfluß auf die generelle geschichtliche Dynamik Europas in den kommenden Jahren ausüben können. Die öffentliche Debatte wird sich angesichts dieser politischen Polarisierung sicherlich weiter verschärfen: Das „politisch korrekte“ Spektrum wird in Anbetracht der nötigen, nahezu manichäischen Abgrenzung nach „rechts“ zunehmend enger werden und Abweichungen vom Erlaubten immer stärkere berufliche und gesellschaftliche Konsequenzen haben; das „konservative“ Spektrum aber wird wohl zunehmend stärker hervortreten und sich trotz der Gängelung der alternativen und sozialen Medien seine Kanäle zu schaffen wissen.
Freie Welt: Warum haben Sie sich für eine Aufsatzsammlung entschieden?
Prof. Engels: Das ganze Projekt entstammt ja einem Forschungsprojekt, welches ich seit 2018 am polnischen „Instytut Zachodni“ in Posen betreuen durfte. Erstes Ziel war es, Intellektuelle aus ganz Europa zu vernetzen, welche sich sowohl durch einen gewissen Kulturkonservatismus als auch durch eine positive Haltung der europäischen Vereinigung gegenüber kennzeichnen, um in dieser Hinsicht so etwas wie eine neue Öffentlichkeit zu schaffen. Polen war hierfür der ideale Ort, da gerade die polnische Öffentlichkeit (wie ohnehin alle Visegrad-Staaten) durch eine grundsätzlich positive Haltung gegenüber der europäischen Idee geprägt ist, ohne dafür doch ihre Liebe zur eigenen Kultur und zur historischen abendländischen Tradition opfern zu wollen – kein Wunder also, daß bei unserer Tagung zahlreiche interessierte Vertreter der polnischen Regierung und des polnischen Parlaments anwesend waren. Zweites Ziel war es, nicht auf der üblichen Ebene der Klagen über die (schlechte) Gegenwart und der kritiklosen Idealisierung der „guten alten Zeit“ zu verharren, sondern konkrete Reformvorschläge für Nationalstaat wie Europäische Union zu durchdenken. Das Resultat kann sich sehen lassen: Wir haben renommierte Denker aus Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Belgien, Deutschland, Italien, Ungarn und Polen verpflichten können und dadurch gezeigt, daß „Konservatismus“ eben nicht mit Nationalismus gleichbedeutend sein muß, sondern ganz im Gegenteil Geister aus ganz Europa im konstruktiven Bemühen um eine innere Erneuerung vereinen kann.
Freie Welt: Was kennzeichnet die einzelnen Aufsätze? Wer sind die Autoren?
Prof. Engels: Wir haben uns bemüht, das weite Feld abendländischer Identität in verschiedene Schwerpunktbereiche aufzuteilen und von jeweils einem unserer Mitarbeiter analysieren zu lassen (mit einem Geleitwort von Justyna Schulz, der Direktorin des „Instytut Zachodni“). Chantal Delsol etwa, Philosophin, Gründerin des Hannah-Arendt-Instituts und Professorin an der Universität Marne-La-Vallée, untersucht die gegenwärtige Migrationskrise und plädiert nicht nur für einen größeren Realismus und Pragmatismus bei der Aufnahme neuer Einwanderer, sondern auch die Stärkung der europäischen Leitkultur. AlvinoMario Fantini, ehemaliger Vorsitzender des Hayek-Instituts und Herausgeber der Zeitschrift „The European Conservative“, spürt den historischen Wurzeln des abendländischen Weltbilds nach und unterstreicht die Notwendigkeit einer inneren Rückkehr der Europäer zu ihrer christlichen Identität. Birgit Kelle, Publizistin und Journalistin, analysiert den gegenwärtigen Zerfall der Gesellschaft durch die „Gender“-Ideologie und engagiert sich für selbstbestimmte, aber den traditionellen Geschlechterrollen gegenüber durchaus positive Neubestimmung der europäischen Familienstrukturen. Zdzisław Krasnodębski, Professor für Soziologie an der Universität Bremen und Vize-Präsident des Europäischen Parlaments, zerlegt in seinem Beitrag auf sehr nuancierte Weise die Eckpunkte politisch korrekten Denkens und Handelns auch im Kontext der Spaltung zwischen West- und Osteuropa und setzt sich für eine selbstbewußtere Mitgestaltung der europäischen Einigung durch konservative Politiker an. András Lánczi, Professor für Politologie und Rektor der Corvinus-Universität in Budapest, zeigt den Widerspruch zwischen Naturrecht und positivistischem Rechtsrelativismus auf und unterstreicht die Bedeutung einer Einbindung historischer Werte in moderne Verfassungen. Max Otte, bekannter Wirtschaftswissenschaftler und Finanzexperte und Initiator des „Neuen Hambacher Festes“, bespricht die Probleme des gegenwärtig dominierenden angelsächsischen Wirtschaftsliberalismus und fordert eine Rückkehr zum kontinentalen Modell sozialer Marktwirtschaft, wie sie auch in der christlichen Soziallehre verteidigt wurde. Jonathan Price, Dozent für Philosophie an den Universitäten von Oxford und Warschau sowie Sekretär der „Vanenburg Society“, liefert eine transzendentale Einordung der gegenwärtigen modernistischen Ästhetik, zeigt, wie untrennbar diese vom Zerfall unserer gesellschaftlichen und politischen Ordnung ist, und wirbt für eine Rückbesinnung auf eine „klassische“ Ästhetik, welche auch zu einer Stärkung der politischen und kulturellen Solidarität der Europäer beitragen könnte. Ich selbst schließlich habe in meinem Beitrag versucht, die gegenwärtige (Fehl-)Entwicklung der EU in einen breiteren geschichtsphilosophischen Kontext einzuordnen und die Umrisse einer möglichen künftigen europäischen Verfassung zu skizzieren, welche sich durch radikale Subsidiarität wie eine konsequente Rückbesinnung auf unsere historischen Werte auszeichnet.
Freie Welt: Ein zentrales Thema, das in „Renovatio Europae“ immer wieder umkreist wird, ist die Begründung einer europäischen Verfassung. Warum braucht Europa eine Verfassung und wie sollte diese gestaltet sein?
Prof. Engels: Daß der Bürger weder genau weiß, was die EU letztlich institutionell sein will, noch, wohin sie sich entwickelt, trägt sicherlich zu der großen Verunsicherung unserer heutigen Zeit bei: Niemand besteigt gerne ein Schiff, dessen Ziel er nicht kennt, und dessen Kapitän er nicht vertraut. Bedenkt man, daß durch den Europäischen Gerichtshof und die gezielten Unklarheiten der gegenwärtigen Verträge einem ungesteuerten Wildwuchs der Institutionen ebenso wie einer beliebigen Interpretation der europäischen „Werte“ Tür und Tor geöffnet sind, kann man dem Bürger kaum Unrecht geben. Allein schon aus diesen Gründen scheint es mir wie vielen anderen Projektmitarbeitern unerläßlich, dem Schiff Europa durch eine mehr oder weniger definitive und klare Verfassung gewissermaßen eine effiziente Kommandostruktur zu geben, welche nationale Eigenarten ebenso wie eine hinreichende Steuerbarkeit des gesamten Unternehmens sichert und zudem die Rückbindung der europäischen Werte an jene transzendentale Dimension gewährleistet, welche alleine das Schiff auf Kurs zu halten vermag. Ganz konkret gesprochen bedeutet dies, Parlament und europäischen Rat zu den zwei Kammern einer wahrhaft demokratischen Volksvertretung umzugestalten, bei der die alleinige Gesetzbefugnis liegt, und welche zudem eine kleine Zahl von Staatssekretären bestellt, die an die Stelle der Kommission zu treten haben und sich mit einer Handvoll von Schlüsselbefugnissen beschäftigen (Schutz der Außengrenzen, Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung, Infrastruktur, strategische Ressourcen, Forschungskooperation, legale Abstimmungsverfahren, Finanzen). Nur Außenpolitik und innere Streitschlichtung sollten einem von der Gesamtbevölkerung gewählten Magistraten übertragen werden, der gleichzeitig als äußerer Repräsentant der Union dienen kann. Die Verfassung sollte darüber hinaus aber auch das klare Bekenntnis zu den historischen Leitwerten der abendländischen Kultur enthalten (antikes und jüdisch-christliches Erbe, abendländisches Familienbild, sozialverträgliche Wirtschaft, naturrechtliche Prinzipien, etc.), welche der gegenwärtigen Beliebigkeit bei der Interpretation rein rechtspositivistisch begründeter „Werte“ entgegentreten und darüber hinaus eine verfassungsrechtliche Bestätigung des jahrhundertealten abendländischen Menschenbilds liefern sollen, welche erst eine langfristig glückliche Integration fremder Einwanderer möglich macht…
Freie Welt: Wie müssten sich europäische Konservative in Ihren Augen heutzutage vernetzen und wo finden Sie die stärksten Bündnispartner?
Prof. Engels: Ich denke, die vorrangige Frage seitens der gegenwärtigen „Konservativen“ ist die ideologische Entscheidung zwischen Liberalismus und Traditionalismus; alles andere folgt daraus. Diese Wahl konnte sowohl aus innerer Unsicherheit wie auch aus wahltaktischen Gründen lange aufgeschoben werden; die Unklarheit über den einzuschlagenden Kurs ist aber mittlerweile ein Hemmnis geworden, und selbst, wenn eine solche Trennung zeitweise einen wahltaktischen Rückschlag bringen könnte, würde sie doch zu einer deutlichen Schärfung des Profils und einem langfristigen Glaubwürdigkeitsgewinn führen. Was die Bündnispartner betrifft, so ist es zum einen unerläßlich, eine möglichst europaweite Front aufzubauen und die entsprechenden Wahlprogramme möglichst kompatibel (ich sage bewußt nicht: identisch) zu gestalten. Darüber hinaus gilt es aber auch, den Anschluß an unpolitische Organisationen zu finden und in die Zivilgesellschaft hineinzuwirken. Ich denke hier nicht nur an die Kirchen, Gewerkschaften, Schulen und Universitäten, sondern auch an das in Zukunft sicher steigende Bedürfnis nach sozialer Absicherung und nach Schutz vor steigenden Verbrechensraten und zunehmender Rechtsunsicherheit – hier einzuhaken, würde einen definitiven Vorteil bringen.
Freie Welt: Was erhoffen Sie sich in diesem Zusammenhang von der Übersetzung von Renovatio Europae in andere Sprachen?
Prof. Engels: Es war unsere feste Überzeugung, daß alle europäischen Staaten mit analogen Problemen konfrontiert sind, und auch eine langfristige Lösung nur auf europäischer Ebene stattfinden kann. Dementsprechend darf auch die Diskussion dieser Fragen nicht auf einzelne Nationalstaaten begrenzt bleiben, sondern muß auf dem ganzen Kontinent geführt werden. Wir sind daher sehr glücklich, daß neben der deutschen auch eine französische, englische, polnische und spanische Version unseres Buchs erscheinen wird. Gerade in Anbetracht der Tatsache, daß aufgrund der gegenwärtigen Medienlandschaft viele Europäer nur ein sehr ungenügendes Bild von den Verhältnissen im jeweiligen Nachbarland haben, das ihnen in der Regel nur dem Grade der dort herrschenden politischen Korrektheit entsprechend verzerrt präsentiert wird, ist übernationale Aufklärungsarbeit ein echtes Desiderat.
Freie Welt: Was kann in Ihren Augen der einzelne Bürger heutzutage noch bewirken?
Prof. Engels: Der Gestaltungsspielraum des Einzelnen ist in einem Staatengebilde von einer halben Milliarde Menschen natürlich höchst beschränkt, zumal der gegenwärtig herrschende Geist im besten Fall eine apolitische innere Immigration, im schlechtesten die opportunistische Unterwerfung unter den ideologischen Mainstream fördert. Trotzdem mag gerade dies eine echte Chance sein: Wo keiner seine Stimme erhebt, da schallt der Ruf des Querdenkers umso lauter, wenn er nur die Wände des Schweigens durchbricht, welche leider von vielen Medien aufgerichtet werden. Und natürlich gilt heute wie immer in der Geschichte: Das echte Heil kommt niemals von der Gesellschaft, sondern immer aus dem Inneren. Für unsere Belange bedeutet dies, daß eine äußere Erneuerung oder doch wenigstens hinreichende Stabilisierung des alternden und verfallenden Europas nur dann Früchte tragen kann, wenn sie auch von einer inneren Rückbesinnung begleitet wird. Wie dies selbst unter widrigsten Umständen erreicht werden kann, zeigt Ernst Jüngers „Waldgänger“ – und in diesem Sinne wird in den nächsten Wochen ein weiteres Büchlein von mir erscheinen (zunächst nur in der französischen Version mit dem an Tschernyschewski angelehnten Titel „Que faire?“ – „Was tun?“), in dem es darum geht, wie man als unpolitischer Einzelner mit dem Niedergang Europas leben kann, ohne an seinem kulturellen Erbe zu verzweifeln. Hoffentlich wird auch eine deutsche Fassung erscheinen. Michel Houellebecq hat sich jedenfalls bereits sehr positiv über das Buch geäußert…
Freie Welt: Welche Rolle werden die Christen bei dem Neuaufbau Europas spielen? Glauben Sie an ein Wiedererstarken des christlichen Glaubens in Europa?
Prof. Engels: Das Christentum wird, wie ich gleichzeitig erwarte und erhoffe, eine wesentliche Rolle bei diesem Neuaufbau oder doch wenigstens bei der Festigung Europas spielen, aber als kulturmorphologischer Denker erwarte ich nicht, daß es hierbei zu einer echten spirituellen Neugeburt kommen wird – dafür sind wir zu weit gegangen, und dafür sind unsere zivilisatorischen Kräfte auch zu erschöpft. Immerhin aber steht zu hoffen, daß – wie im augusteischen Principat – ein „hesperialistisches“ Europa wesentlich auf einer kollektiven Rückbesinnung auf die christliche Tradition als ultimativer „Leitkultur“ des Kontinents beruhen wird; eine Art bewußte, gewissermaßen posthume Verklärung eines Erbes, das zumindest in einzelnen Menschen immer noch lebt und wirkt, und das auch in jenen, die zum Glauben selbst nicht mehr finden können, doch zumindest Liebe und Ehrfurcht hervorrufen kann. Denkt man an den gegenwärtigen Grad der Entchristlichung des laut Benedikt XVI. längst „heidnisch“ gewordenen Europas, wäre dies mehr, als die meisten von uns überhaupt erhoffen können – und vielleicht auch mehr als das, was wir nach der leichtfertigen Verschwendung unseres Erbes verdient haben.
Freie Welt: Sehr geehrter Prof. Engels, wir danken Ihnen sehr für das Gespräch.
[Siehe auch Buchrezension zum neuesten Werk von Professor Engels HIER]